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Auftakt der Artikelserie «Kantone als Labore für Menschenrechte»
Die Schweiz ist ein föderalistischer Staat – das zeigt sich nicht nur in ihrer politischen Organisation, sondern auch im Menschenrechtsschutz. Während die Bundesverfassung den Mindeststandard an Grundrechten definiert, bieten die Kantonsverfassungen Raum für weitergehende Garantien. Zahlreiche Kantone haben diesen Raum genutzt und Grundrechte geschaffen, die auf Bundesebene nicht oder nur eingeschränkt existieren.
In der Artikelserie zeigt die SMRI, wie lokale Initiativen, gesellschaftlicher Druck oder politische Visionen dazu führten, dass die kantonalen Stimmbevölkerungen neue Grundrechte in ihren Kantonsverfassungen verankert haben – und wie diese Grundrechte den Alltag der Menschen prägen.
Die Serie macht sichtbar, dass es in der Schweiz durchaus auf den Wohnkanton ankommt, wenn es um den Schutz und die Verwirklichung der Menschenrechte geht. In dem sie aufzeigt, wie der Föderalismus als Labor für Menschenrechte wirken kann, will die SMRI Denkanstösse geben, wie die Menschenrechte in der Schweiz weiterentwickelt und gestärkt werden können.

Kantonale Grundrechte – ihre Geschichte, Rolle und Bedeutung
Der Schutz der individuellen Freiheitsrechte wurde in der Schweiz zunächst auf kantonaler Ebene verankert, bevor entsprechende Garantien auf Bundesebene Einzug hielten. Inspiriert durch die europäischen Ideen des Liberalismus der Regenerationszeit fanden ab 1830 Freiheitsrechte wie die Pressefreiheit, die persönliche Freiheit, die Eigentumsgarantie und das Petitionsrecht, teilweise auch die Religionsfreiheit und die Handels- und Gewerbefreiheit, Eingang in zahlreiche neue Kantonsverfassungen. Die Idee der individuellen Grundrechte gegenüber dem Staat ist somit älter als die moderne Schweiz. Es waren die kantonalen Verfassungen, welche die Grundlage für das heutige grundrechtliche Selbstverständnis der Schweiz bildeten.
Die Bundesverfassung von 1848 nahm diese kantonalen Entwicklungen auf und enthielt erstmals einzelne ausgewählte Freiheits- und Gleichheitsrechte. Mit der Totalrevision von 1874 wurde die Liste der Grundrechte in der Bundesverfassung erweitert und damit ein entscheidender Schritt in Richtung einer gesamtschweizerischen Verankerung getan.
Seit den 1960er Jahren hat das Bundesgericht den Grundrechtsschutz durch die Anerkennung ungeschriebenen Verfassungsrechts weiter ausgebaut. Diese grundrechtliche Rechtsprechung führte zwar zu einer Relativierung der kantonalen Bestimmungen, baute aber in vielen Fällen auf bereits bestehende Grundrechte in den Kantonen auf. Die Vorarbeiten zur Totalrevision der Bundesverfassung von 1999 waren wiederum Anlass für gegenseitige Lern- und Rezeptionsprozesse zwischen Bund und Kantonen, sowie zwischen den Kantonen.
Auffallend ist, dass gerade im Bereich der sozialen Rechte zahlreiche Kantonsverfassungen von Anfang an weitergehende Garantien als die Bundesverfassung enthielten und bis heute in ihrem Schutz oft weiter gehen. Beispielsweise gewährte die St. Galler Verfassung von 1890 schon einen Anspruch auf Stipendien und Studiendarlehen, und die Verfassung des Kantons Jura von 1977 (aktuell gültig) verankerte das Recht auf Arbeit, das Recht auf Wohnung und das Recht auf Ausbildung. Das jüngste Beispiel ist das Recht auf Ernährungssicherheit, das die Genfer Kantonsverfassung seit dem Jahr 2023 garantiert.
Durchsetzung kantonaler Grundrechte
Die kantonalen Grundrechte entfalten nur dann eine rechtliche Wirkung, wenn sie auch tatsächlich durchgesetzt werden können.
Die erste Bundesverfassung legte zwar den Grundstein für die Einrichtung eines Bundesgerichts. Dessen Kompetenzen waren jedoch sehr beschränkt und betrafen nur das Privat- und Strafrecht. Eine Beschwerde wegen Verletzung der Grundrechte war grundsätzlich nur an den Bundesrat und dann an die Bundesversammlung möglich. Erst mit der Revision der Bundesverfassung von 1874 wurde das Bundesgericht zu einem ständigen Gericht und seine Kompetenzen wurden erweitert. Dazu gehörte unter anderem die Kompetenz des Bundesgerichts, neben den Grundrechten der Bundesverfassung auch die kantonalen Grundrechte auszulegen und mitzugestalten.
Bis heute ist das Bundesgericht nicht nur für die Durchsetzung der bundesrechtlich garantierten Rechte zuständig. Auch die kantonalen Grundrechte sind vor Bundesgericht einklagbar. Damit hat sich das Bundesgericht als zentrale Instanz in Fragen der Grundrechtsauslegung etabliert – unabhängig vom Ursprung der jeweiligen Garantie.
Inhalt der Serie «Kantone als Labore für Menschenrechte»
In dieser Artikelserie wirft die SMRI einen Blick auf kantonale Grundrechte, die über die bundesrechtlichen Mindeststandards hinausgehen – mal innovativ, mal visionär, aber immer das Ergebnis des föderalistischen, lokalen Gestaltungsspielraums.
In den kommenden acht Wochen beleuchtet die SMRI jede Woche ein anderes kantonales Grundrecht: vom Recht auf eine gesunde Umwelt in Genf bis zur Anerkennung der italienischen Gebärdensprache und dem Mindestlohn im Tessin, von den Autonomie- und Persönlichkeitsrechten älterer Menschen in Freiburg bis zum Recht auf familienergänzende Kinderbetreuung und Recht auf Wohnen in Basel-Stadt, vom Recht auf digitale Integrität in Neuenburg bis zum Recht auf ein Sterben in Würde in der Waadt.
Diese Beispiele zeigen, dass trotz der mittlerweile umfassenden Verankerung der klassischen Grundrechte auf Bundesebene viele moderne Kantonsverfassungen nach wie vor eigene, weitergehende Grundrechte enthalten. Diese haben eine eigenständige Bedeutung und ihre Verletzung kann vor Bundesgericht geltend gemacht werden. Der Föderalismus wirkt hier als Labor der Menschenrechte. Er eröffnet jene Denk- und Handlungsräume, die es braucht, um den nationalen Grundrechtsschutz von unten nach oben weiterzuentwickeln und zu erneuern.
Quellen
Werner Brüschweiler: «Bundesgericht », in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 31.03.2016. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/009631/2016-03-31/, konsultiert am 24.03.2025.
Andrea Edenharter, Der Schutz der Grundrechte in der Früh- und Konsolidierungsphase des schweizerischen Bundesstaates, in: Zeitschrift für neuere Rechtsgeschichte (ZNR) 40 (2018), Heft 1–2, S. 27 – 58.
Ulrich Häfelin, Grundrechte in den Schweizer Kantonsverfassungen, in: R. Novak, B. Sutter und G. D. Hasiba (Hrsg.), Der Föderalismus und die Zukunft der Grundrechte, Hermann Böhlaus Nachf., Graz 1982, S. 27 – 49.
Andreas Kley; «Menschenrechte», in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 18.02.2021. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/013979/2021-02-18/, konsultiert am 22.04.2025.
Jörg Paul Müller, Grundrechte, in: W. Kälin und U. Bolz (Hrsg.), Handbuch des bernischen Verfassungsrechts, Haupt Stämpfli, Bern 1995, S. 29 – 55.
Kurt Nuspliger, Wechselwirkungen zwischen neueren Kantonsverfassungen und der Bundesverfassung, in: U. Zimmerli (Hrsg.), Die neue Bundesverfassung: Konsequenzen für Praxis und Wissenschaft, Stämpfli, Bern 2000, S. 63 – 102.
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