Stefan Schlegel im Interview

Seitenkontext

«Wir müssen die Menschenrechte laufend pflegen»

Ein Gespräch mit dem neuen Direktor der SMRI, Stefan Schlegel

Stefan Schlegel, Sie sind der erste Direktor der neu gegründeten SMRI. Eine grosse Aufgabe?

Eine schöne und eine spannende Aufgabe in erster Linie ... und eine Aufgabe, die potenziell grosse Auswirkungen hat. Wir gehen jetzt die ersten Schritte, und frühe Schritte spuren immer besonders vieles vor. Mit Glück und Engagement kann die SMRI eine starke Stimme für die Menschenrechte in der Schweiz werden – mit weniger Glück und weniger Engagement aber auch ein Mauerblümchen mit zu wenigen Ressourcen und zu wenig Sichtbarkeit.

Porträt eines Mannes mit Halbglatze, Brille und Bart.
Stefan Schlegel, Jurist und Direktor der SMRI

Was hat Sie zu den Menschenrechten gebracht?

Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich das erste Mal von den Menschenrechten gehört habe. Es muss in der 4. Klasse gewesen sein. Wir haben in der Schule die verschiedenen Religionen der Welt und ihre heiligen Texte durchgenommen. Interessanterweise war in der Auswahl der Religionen auch der «Humanismus» mit dabei, und als dessen «heiliger Text» wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vorgestellt. Der Lehrer hat aus dieser vorgelesen. Beides – den Humanismus als eine Religion und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als einen heiligen Text darzustellen – ist aus der Distanz beurteilt natürlich etwas schräg. Aber damals hat mich das elektrifiziert. Ich fand das sofort plausibel, dass man das Schicksal der Menschen verbessern kann, indem man ihnen Rechte gibt und diese schützt, indem man ihnen Freiheitsräume schafft, in denen sie sich entfalten können.

Warum sind Sie heute immer noch in diesem Thema aktiv?

Für mich haben die Menschenrechte nie an Plausibilität als Mittel für eine bessere Welt verloren. Zwar bin ich vielen politischen und intellektuellen Strömungen begegnet, welche das Recht allgemein und die Menschenrechte im Besonderen verlachen und sie abtun als Blumenkränze, die auf die Ketten der Menschheit gelegt werden, als naive Utopie, als Ausdruck bürgerlicher Kleingeistigkeit oder als eurozentrischen Moralismus. Aber ich fand immer: Wenn die Politik und das Recht am Ende des Tages nicht das Ziel verfolgen, die Würde und die Freiheit der einzelnen Menschen zu schützen und zu vergrössern, welches Ziel sollen sie denn dann verfolgen? Welches andere Ziel könnte legitim sein?

Haben die Menschenrechte auch auf Ihr Leben einen Einfluss genommen?

Für mich, wie für die meisten Menschen, die das Glück haben, in sicheren, freien Verhältnissen zur Welt zu kommen, waren die Menschenrechte ein zwar wichtiges, aber ein kaum sichtbares Fundament. Sie sind eine Voraussetzung für meine Sicherheit und Freiheit, doch auffallen würde das erst, wenn sie einmal nicht mehr da wären. Aber immerhin: Die Menschenrechte waren der Grund, weshalb ich Jurist und dann Rechtswissenschaftler geworden bin. Zwar habe ich mit der Zeit gelernt, wie limitiert der Einfluss von Menschenrechten sein kann und wie routiniert und selbstverständlich sie verletzt werden, wenn sie den Interessen der Mächtigen entgegenstehen. Aber je mehr ich mich mit ihnen befasst habe, desto mehr habe ich auch Beispiele kennengelernt, wo sie im Kleinen und für ganz unterschiedliche Gruppen von Menschen zu einer allmählichen Verbesserung ihrer Situation, einem allmählich besseren Schutz ihrer Würde einen realen Beitrag leisten konnten. Zum Beispiel haben sie dazu geführt, dass Kinder ihre Meinung äussern können und in Verfahren, die sie betreffen, grundsätzlich angehört werden müssen (auch wenn es da in der Schweiz noch Lücken gibt). Oder dazu, dass Menschen, die sich lange legal in der Schweiz aufgehalten hatten, nicht mehr einfach aus dem Land gewiesen werden können, wenn sie ihr Aufenthaltsrecht verlieren. Ich verstehe insofern mein wissenschaftliches und menschenrechtliches Engagement als einen kleinen Beitrag dazu, dass die Welt ein bisschen besser, freier und weniger leidvoll werden kann.

Weshalb braucht es die SMRI?

In der Schweiz, so scheint mir, wird oft angenommen, Menschenrechte würden hier sowieso gelten. Oder es wird jedenfalls angenommen, es bestünden noch einige Defizite, und wenn diese auch überwunden seien, dann würden Menschenrechte dann voll gelten. Eine sehr statische Auffassung. Aber: «Menschenrechte sind nicht eine Gabe, sie sind eine Aufgabe», wie Walter Kälin zu sagen pflegt. Er war der erste Direktor der Vorläuferorganisation der SMRI, des Schweizerischen Kompetenzzentrums für Menschenrechte. Das bedeutet: Man hat Menschenrechte nicht einfach, weil sie einmal in einem juristischen Dokument festgehalten wurden, sondern man muss sie laufend pflegen, laufend neu erringen.

Was kann die SMRI hier tun?

Die Errungenschaften der gegenwärtigen Menschenrechtssituation kann man sich vorstellen wie einen Garten. Ohne beständige Sorge und Pflege würde dieser rasch wieder verwildern. Neben den Gerichten, der Zivilgesellschaft und den Medien ist nun auch die SMRI eine der Gärtnerinnen, die diese Errungenschaften pflegen. Aus meiner Sicht sollte die SMRI aber noch mehr tun, als nur den menschenrechtlichen Status quo zu erhalten. Das sollte nur der erste von drei Schritten sein. In einem zweiten Schritt kann sie mithelfen, dass die Menschenrechte auf Probleme angewendet werden können, die sich neu stellen.

An was für neue Probleme denken Sie?

Stellen Sie sich die Menschen vor, die in den späten 1940er-Jahren die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte oder die Europäische Menschenrechtskonvention verfasst haben. Diese Menschen haben die Menschenrechte im damaligen Kontext nach dem Zweiten Weltkrieg verstanden und festgehalten. Sie konnten viele der Fragen, die sich uns heute stellen, nicht voraussehen: Was bedeuten die Menschenrechte im Kontext des Klimawandels? Welche Rolle spielen sie bei der Regulierung künstlicher Intelligenz oder nur schon bei der Nutzung Sozialer Medien? Das Ziel der Menschenrechte bleibt dasselbe: die Würde und die Freiheit der Person; aber der technologische, ökologische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Kontext, in dem Menschenrechte ihre Wirkung entfalten müssen, verändert sich grundlegend.

Was kann die SMRI hier tun?

Die SMRI kann solche Entwicklungen früh aufgreifen, Antworten entwerfen und diese mit den verantwortlichen Entscheidungsträger*innen diskutieren. Sie kann zudem Brücken schlagen: Als staatlich getragene aber unabhängige Organisation kann sie zwischen Staat und Gesellschaft vermitteln; und sie kann eine Brücke bauen zwischen den internationalen Menschenrechtsdebatten und der Diskussion im Inland.

Sie hatten noch einen dritten Punkt ...

Drittens enthalten die Menschenrechte einen Fortschrittsoptimismus und ein Fortschritts­versprechen. Sie haben den Anspruch, für alle Menschen zu gelten, auch für jene, die ganz am Rand der Gesellschaft stehen, deren Stimme kaum gehört wird und die als erste vergessen gehen. Diesem Anspruch allmählich näher zu kommen, braucht permanente Arbeit. Mitzuhelfen, den Wirkungskreis der Menschenrechte in der Schweiz allmählich auszudehnen, auch auf jene, deren Rechte heute noch besonders prekär sind, ist eine Aufgabe der SMRI.

Muss sich für diesen Fortschrittsprozess, auf den Sie hoffen, auch das Wissen über die Menschenrechte verbessern?

Ja. Menschenrechte sind nicht nur ein juristisches Instrumentarium, sondern auch ein kulturelles Phänomen. Viele politische Anliegen lassen sich entweder in einer Sprache der Menschenrechte formulieren oder in einer alternativen Sprache, zum Beispiel in der Sprache des Umweltschutzes oder des Kampfes gegen Ungleichheit. Eine Zeitlang waren die Menschenrechte die Standardsprache; möglichst alle politischen Anliegen wurden in der Sprache der Menschenrechte formuliert. Entsprechend präsent waren die Menschenrechte. Seit einiger Zeit ändert sich das aber. Beispielsweise werden Umweltanliegen stärker aus der Perspektive der Umwelt selber (oder sogar aus der Perspektive eines Flusses oder eines Gletschers) formuliert und weniger direkt als Rechte von Menschen, die auf diese Umweltressourcen angewiesen sind. Wenn die Sprache der Menschenrechte weniger verbreitet ist, könnte auch das Wissen über Menschenrechte künftig abnehmen. Aber für mich ist der momentane Wissensstand über Menschenrechte gar nicht das Entscheidende; denn auch ein guter Wissensstand muss laufend gepflegt werden. Die Aufgabe der SMRI wird es sein, einen Beitrag dazu zu leisten, dass sich das Wissen um Menschenrechte und die Sorge für die Menschenrechte Generation für Generation regeneriert.

Was können wir tun, um uns für die Menschenrechte einzusetzen?

Es gibt viele Wege, wie man sich für die Menschenrechte einsetzen kann. Das ist nicht schwierig, und alle können einen Beitrag leisten – egal, wie wenig oder wie viel Einfluss sie haben oder zu haben glauben. Viele winzige Beiträge bewirken mit der Zeit einen spürbaren Fortschritt. Das beginnt schon mit einem bewussten Konsumverhalten, bei dem man auf den Einfluss auf die Umwelt und die Arbeitsbedingungen achtet, die hinter einem Produkt stehen. Man kann sich in einem Verein gemeinsam mit anderen für bestimmte Rechte oder für die Rechte bestimmter Gruppen einsetzen, beispielsweise für die Rechte von Menschen mit Behinderungen oder für die Rechte von Frauen oder von Menschen im Freiheitsentzug. Und man kann sich öffentlich zugunsten der Menschenrechte äussern, mit Leserbriefen, in den Sozialen Medien, oder indem man den öffentlichen Raum dafür in Anspruch nimmt.

Besonders wichtig scheint es mir, dass man den Mut hat, nicht zu schweigen – sei es bei der Familienfeier, in der Kaffeepause mit Arbeitskolleg*innen oder auf der Strasse: wenn über einen Menschen oder eine Gruppe von Menschen so gesprochen wird, als seien sie weniger wert als wir anderen, als könne man sich über deren Schicksal hinwegsetzen, als würde ihr Leid weniger zählen als unseres.

Was wünschen Sie sich für die SMRI?

Von der SMRI erhoffe ich mir, dass sie ein Seismograph und ein Taktgeber für die Menschenrechte in der Schweiz sein kann, dass sie frühzeitig auf kritische Entwicklungen in Bezug auf die Menschenrechte hinweist, dass sie konkrete Hilfestellungen leistet zur Bewältigung dieser Entwicklungen und dass sie immer wieder neue Anläufe unternimmt, damit in der Schweiz mehr Menschen besser in ihren Rechten geschützt sind.